Shizuka ist verzweifelt. Ihr Papa hat
gerade angerufen um zu erzählen, dass sein Flug von Tôkyô nach
Ôsaka gestrichen ist, dass sich sein Flug von Ôsaka nach Frankfurt
um fünf Stunden oder mehr verzögern wird, weil Taifun Nr. 11 über
Honshu hinweg in Richtung Inlandsee unterwegs ist. Es ist in Japan
mitten in der Nacht, Mitarbeiter der involvierten Fluglinien sind
erst in einigen Stunden wieder erreichbar – zu dem Zeitpunkt, wenn
das Flugzeug eigentlich hätte abheben sollen. Shizuka sitzt in
Heilbronn, es ist neun Uhr abends, und sie will einfach nicht
schlafen. Sie weint, sie schreit, sie haut um sich, ist ganz
offensichtlich sehr verzweifelt. Shizuka ist sieben Jahre alt und
ihre Welt ist gerade zusammengebrochen. Eigentlich könnte ihr in
Heilbronn doch recht egal sein, um welche Uhrzeit genau Papas Flieger
in Ôsaka startet – er wird Sonntag oder Montag wieder zu Hause
sein, es ist Sommer, sie hat Ferien, Papa hat Urlaub. Ist es aber
nicht. Der Flieger startet nicht nach Plan, und das stresst sie ganz
extrem.
Warum?
Weil Shizuka ein besonderes Kind ist.
Sie ist keineswegs geistig behindert (die extreme Reaktion legt eine
autistische Störung nahe – dem ist aber nicht so), sondern im
Gegenteil recht gut beieinander. Shizuka gehört zu den wenigen
Kindern, die hochbegabt sind. Nun sollte man meinen, dass diese
frühreifen, sehr erwachsen wirkenden und überaus intelligenten
Kinder auch „erwachsen“ reagieren würden, wenn so etwas
passiert. Oder wenigstens so gleichgültig, wie man das von einem
Kind erwartet.
Dem ist aber nicht so. Die neuere
Forschung ist sich einig, dass hochbegabte Menschen nicht einfach nur
schneller begreifen und Sachen einfach können. Früher nahm man das
an, ohne weiter erklären zu können, was eigentlich Intelligenz ist,
wie Informationen im Gehirn ankommen, verarbeitet werden und warum
das so und nicht anders passiert. Inzwischen weiß man, wie genau das
alles auf anatomischer Ebene passiert, kann die beteiligten
Körperteile genau benennen (bis hinunter auf Zellebene), weiß um
die chemischen Vorgänge im Körper und vor allem im Gehirn. Mehr
noch: Man hat eine Ahnung bekommen, wie Begabungen oder Intelligenz
funktionieren könnten. Ganz sicher nachgewiesen ist das noch nicht,
denn Menschen sind doch Individuen, sie funktionieren trotz aller
Gemeinsamkeiten unterschiedlich, und das kann Forschungsergebnisse
durchaus beeinflussen. Einig ist man sich in fachlich kompetenten
Kreisen jedoch, dass hochbegabte Menschen immer auch hochsensibel
sind. Ihre Nerven geben mehr Informationen weiter als bei der
Mehrheit der Bevölkerung, die normalerweise wirksamen Filter sind
bei ihnen eben nicht so wirksam. Und die Informationen werden
schneller weitergegeben, die Synapsen sind also dicker,
durchlässiger, reagieren schneller und häufiger. Das führt zu
einer Informationsflut im Bewusstsein wie im Unterbewusstsein, die
unglaublich viel größer ist als das, was normalerweise da
vonstatten geht. Und das löst eben auch manchmal Stress aus. Es wird
vermutet, dass das, was gemeinhin als Autismus bekannt ist, eine Form
der Hochintelligenz (und Hochsensibilität) ist, die weit jenseits
der aktuell verfügbaren Messskalen ist und daher nicht festgestellt
werden kann. Viele autistische Menschen, deren Besonderheit schwach genug ausgeprägt ist und
die noch kommunizieren können und wollen, sind hochbegabt, und das
ist auch schon länger bekannt.
Zu Shizukas Situation muss noch gesagt
werden, dass der Papa am Sonntag frühabends in Heilbronn hätte
ankommen sollen, um sich bis zum Montag in der Früh ordentlich
ausschlafen zu können. Denn Shizuka wird am Montag spätvormittags
300 km von Heilbronn entfernt auf dem Reiterhof erwartet, fünfzehn
Kinder machen dort Urlaub. Warum ist Papas Verspätung jetzt so
schlimm? Genau – wenn der Flieger nicht fliegt, kommt der Papa
später in Deutschland an, ist dank Zeitverschiebung und Nachtflug
fix und alle, kann nicht in den Urlaub fahren, Shizuka kommt zu spät
in den Reiterferien an. Was Erwachsene (die normal ticken) sich
langsam nach und nach erschließen, ist alles sofort in Shizukas
Bewusstsein präsent. Und mehr noch. Mama könnte Shizuka und ihre
Schwester mit dem Zug bringen – wenn Mama nicht gerade eine
verletzte Schulter hätte. Gepäck tragen ist nicht möglich. Taxi
ist zu teuer, Fernbusse gehen am Sonntag nicht, und am Montag fährt
der Bus erst nachmittags aus Heilbronn ab, zu spät, um pünktlich
auf dem Hof fernab aller öffentlichen Verkehrsmittel anzukommen.
Taifun über Honshu heißt, dass auch Tôkyô betroffen ist – wie
geht es dem Papa? Wie geht es Oma und Opa, die auch auf der
japanischen Hauptinsel wohnen? Was ist mit Papas Bruder und seiner
Familie? Taifun in der Nacht – kommt Papa überhaupt heile bis zum
Flughafen? Wenn der Taifun über das Meer fegt, gibt es bestimmt eine
Flutwelle. Was ist mit Fukushima, ist das halbwegs sicher? Und vor
allem: Wann kommt der müde Papa denn endlich nach Hause?
Wenn man versucht, alle diese Gedanken
gleichzeitig zu denken, merkt man, wie anstrengend das ist. Shizuka
„funktioniert“ immer so. Wenn Shizuka den Vollmond anhimmelt, tut
sie das zwar genauso wie andere kleine Mädchen auch, sie starrt mit
großen Augen halb ernst und halb schwärmerisch in den Himmel. Wenn
man sie aber fragt, was sie da sieht, kommen die erstaunlichsten
Antworten, und zwar alle auf einmal:
- Das ist ein Planet, oder? Ich meine, wir wissen ja gar nicht, wie der Mond entstanden ist, aber die Gesteinszusammensetzung ist doch wie bei der Erde. Bis auf den Größenunterschied sind das doch eigentlich Zwillingsplaneten, die Erde und der Mond. Trabanten sind doch irgendwie anders zusammengesetzt, das Gestein und so.
- Der ist gar nicht gelb, der ist eigentlich grau-weiß. Aber so rot wie heute sieht der total schön aus. Luftverschmutzung hat wenigstens eine gute Seite.
- Meinst Du, die Astronauten haben bei den Mondlandungen Müll dort gelassen? So, wie die Leute im Park und auf Baustellen ihren Müll einfach in die Landschaft werfen? Mülleimer gibt’s dort oben doch gar nicht.
- Ich würde gerne mal die Mondkrater hochklettern. Mit der anderen Schwerkraft macht das Klettern dort bestimmt viel mehr Spaß als hier in der Kletterhalle. Und einen Gurt und Seile brauchen wir dann auch nicht, oder?
- So weit weg ist der gar nicht weg. Raumfahrer sind da relativ schnell mit der Rakete. Würd ich auch mal gerne machen.
Shizuka braucht keine drei Minuten, um
das alles zu thematisieren. Ihr Sprechapparat funktioniert genauso
schnell wie ihr Köpfchen. :-)
Aber zurück zum Thema. Shizuka
reagiert so extrem aggressiv, weil sie schlicht überfordert ist von
der Informationsflut, mit der ihr Gehirn sie konfrontiert. Sie ist
nicht in der Lage, die vielen Gedanken alle auf einmal zu
verarbeiten, die sind einfach alle da und betteln sehr laut um
Aufmerksamkeit. Das ist vergleichbar mit einem Metal-Festival, bei
dem alle Bands gleichzeitig auf ein und derselben Bühne spielen, und
zwar jede Band ein eigenes Stück. Da kann man aber noch die Ohren
zuhalten und weggehen – wenn die eigenen Gedanken einen mit so
einer Kakophonie belästigen, geht das nicht. Die Folge sind
Aggressionen, und die müssen irgendwo raus. Bei Shizuka fängt das
in der Regel mit einem lauten Knurren an, dann folgt ein schriller
Schrei, der in eine Art Pferdewiehern übergeht und in Schluchzen
endet. Gleichzeitig drischt sie um sich, wenn es arg schlimm kommt.
Meistens hat sie es während Knurren und Schreien schon bis zum Sofa
oder zu ihrem Bett geschafft, so dass sie die Gedankenflut in ein
Kissen hämmern kann. Manchmal schafft sie das nicht. Dann sind Mamas
Unterarme und Fäuste willkommen, um die gröbste Wucht abzufangen.
Wände, Fußboden und die Tischplatte mussten aber auch schon
herhalten. Wenn gar nichts anderes in der Nähe ist, müssen die
eigenen Arme und Beine einstecken, und sie hat auch schon mit dem
Kopf auf den Boden geschlagen.
Es ist schwer, mit solchen Aggressionen
umzugehen. Und das meine ich nicht nur aus Sicht der betroffenen
Kinder. Auch für Shizukas Mutter ist es schwer, das auszuhalten. Sie
hat lange Zeit nicht gewusst, warum Shizuka so aggressiv ist, warum
sie sich selbst diese Schmerzen zufügt, so toben muss. Sie tut das
nicht, weil sie ungezogen ist oder jemanden ärgern will. Sie kann
einfach nicht anders. Von Eltern anderer hochbegabter Kinder hat sie
inzwischen erfahren, dass das Verhalten normal ist. Dass sie alle
sich Sorgen gemacht haben, weil ihre Kinder so aggressiv sind. Weil
den Kindern das Ventil manchmal auch fehlt und die Autoaggressionen
richtig schlimm werden, die Kinder sich ernsthaft verletzen. Die
wenigsten sprechen darüber. Andere Kinder sind nicht so. Man wird
manchmal schon schräg angeguckt, wenn das eigene Kind zu Hause „so
ein Theater“ macht, wegen vermeintlicher Kleinigkeiten. Für
hochbegabte Kinder sind es keine Kleinigkeiten, sondern jede
unvorhergesehen Änderung ist eine mittlere Katastrophe. Zwischen
wichtigen und unwichtigen Veränderungen können die Kinder (und
manchmal auch Erwachsenen) in der akuten Situation nicht
unterscheiden, sie sind viel zu gestresst.
Shizuka und ihre Mama konnten das am
Samstag Abend entschärfen. Mama hat mit Shizuka online japanische
Medien nach Berichten zu dem Taifun in Frage durchforstet (alles halb
so schlimm, hat sich schon über Shikoku und Kyûshû ausgetobt),
haben die Route des Sturms nachgeschaut, nachgelesen, was
Fluggesellschaften normalerweise in so einem Fall manchen
(alternative Flüge ohne zusätzliche Kosten anbieten, wo möglich
über alternative Flughäfen und Routen sogar zeitgleich). Die beiden
haben sich dann darauf geeinigt, dass sie erst einmal den Sonntag
Abend abwarten und schauen, was der Papa nach dem ersten Gespräch am
Morgen mit den Fluglinienmitarbeitern zu berichten hat. Sollte der
Papa am Sonntag noch ankommen, lassen sie ihn einfach am Montag
ausschlafen und starten dann in den Urlaub – mit einem Anruf beim
Reiterhof, dass Shizuka teilnimmt, aber später kommt (wegen einem
Taifun über Ôsaka – ohne weitere Worte). Wenn der Papa noch
später kommt, schlug Shizuka vor, könnten wir ja mit leichtem
Gepäck für zwei Tage mit dem Zug fahren, dem Papa das übrige
Gepäck in Heilbronn stehen lassen und ihn bitten, nach ausgiebig
Schlaf und Erholung nachzukommen. Dann würde Shizuka sogar pünktlich
sein.
Gegen zehn Uhr abends waren die Wogen
soweit geglättet. Shizuka wollte nicht ins Bett gehen, sie war zu
aufgewühlt und schluchzte immer noch hin und wieder. Sie zitterte
noch, wollte nicht schlafen. Also haben sich Shizuka und ihre Mama
aufs Sofa gesetzt (die kleine Schwester schnarchte da schon seit
guten drei Stunden im Nebenraum, sie hatte sich durch Shizukas
Ausbruch nicht stören lassen) und den Fernseher eingeschaltet. ZDF
Kultur sendete Wacken live. Und zu den Klängen von Apokalyptica
„Nothing Else Matters“ ist Shizuka innerhalb weniger Minuten
eingeschlafen, mit einem entrückten Lächeln auf dem Gesicht und
nachdem Mama ihr das Versprechen gegeben habe, sie zum nächsten
Konzert der Gruppe, das in ihrer Nähe ist, mitzunehmen. Rolf
Zuckowski? Langweilig!
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