Warum lernen Kinder? Bei Erwachsenen
ist die Sache ganz einfach: Die meisten lernen entweder nichts mehr,
oder sie erwerben neue Fähigkeiten und Kenntnisse, weil sie es
entweder beruflich benötigen oder es ihnen Spaß macht. Beides sind
Motivationen, die logisch und sinnvoll sind, die etwas mit dem Willen
zu tun haben. Sie lernen, weil sie es wollen. Warum lernen Kinder?
Wollen sie das? Wenn es um den Erwerb neuer Fähigkeiten geht, um
Fähigkeiten wie Schwimmen, Fahrrad Fahren, Skateboard Fahren,
Singen, durch die Zähne pfeifen, Getränkedosen kicken und mit
Grashalmen nervige Quietschtöne erzeugen – ja, sie wollen das.
Deshalb bringen sie Stunden, Tage und ganze Sommerferien damit zu.
Wer einmal miterlebt hat, wie sich Sechsjährige nach dem Erwerb des
„Seepferdchens“ an den Freischwimmer herantasten, wird das
bestätigen. Das Erlernen der Baderegeln ist nicht das Problem, das
Bewältigen der 200 m Schwimmen in beliebiger Technik, aber
eingeschränkter Zeit schon. Da wird gepaddelt und geschwommen, bis
die Lippen blau sind. Da tummelt man sich von morgens bis abends im
Freibad, nimmt Sonnenbrand, Unterkühlung, Schwitzen und den Wegfall
jeglicher Freizeit in Kauf. Das Taschengeld geht für einen Tauchring
und eine Schwimmbrille drauf, und die kleinen Hochleistungssportler
stehen stundenlang unter dem Dreimeterbrett, um sich die
Sprungtechnik der Großen abzuschauen. Geübt wird erst am
Beckenrand, bei zunehmendem Mut am Startblock, dann am Einer. Der
Dreier ist der Olymp, da traut man sich eine ganze Saison lang nicht
rauf. Und wofür das ganze Theater? Für einen kleinen runden
Aufnäher am Badehöschen und ein Stück Papier, das nach einem
halben Jahr niemanden mehr interessiert. Es ist enorm, wieviel
Motivation ein Kind aufbringen kann.
In der Schule sieht das anders aus. Da
gibt es kein Schwimmabzeichen, das man sich selbst im Schweiße
seines Angesichts (wortwörtlich), unter Erbringen größter
persönlicher Opfer und entgegen den Ratschlägen ängstlicher Eltern
erarbeiten kann. Da gibt es anständig portionierten Lernstoff, der
in vorverdauten 45-Minuten-Häppchen serviert wird, von einer
Lehrkraft, die in der Regel die Bahnen des Denkens ebenso vorgibt wie
die Zeit, die man dafür benötigen darf. Querdenken ist nicht
erlaubt, denn das ruiniert das Klassenziel. Selbst erarbeiten ist nur
in Ordnung, solange es im vorgeschriebenen Tempo erfolgt, und als
Belohnung winken – Hausaufgaben und Klassenarbeiten. Sind diese
„Leistungskontrollen“ geschafft, steht da eine Ziffer auf dem
Papier, das die Eltern unterschreiben dürfen. Kein „Rechenpass“,
kein Aufnäher, nicht einmal sonderbar viel Interesse im Umfeld –
wer will schon fünfmal erzählt bekommen, dass man jetzt die
Addition im Hunderterbereich beherrscht? Kein Wunder, dass die
Motivation da leidet.
Interessant ist dann noch die Frage,
was mit den Kindern passiert, die eine unglaubliche Lernmotivation
haben, sich nicht in das schulische System einfügen wollen und gegen
Unterforderung rebellieren. Um beim Vergleich mit dem
Schwimmabzeichen zu bleiben: Was passiert mit den stolzen
Seepferdchenbesitzern, die sich sofort auf den Dreier trauen, bereits
zwei Meter tief tauchen und sich in einem Sommer die 200 m Strecke
erarbeiten? Nichts passiert mit denen, die dürfen im zarten Alter
von sieben Jahren ein Schwimmabzeichen erwerben, das einmal für
Neun- bis Elfjährige vorgesehen war. Keine große Sache, die
stolzgeschwellte Brust bei Vater und Sohn versteht sich von selbst
(gleiches gilt für Mütter und Töchter). In der Schule ist das
nicht so. Werden die Hausaufgaben nicht erledigt, sondern stattdessen
zwanzig Seiten weiter im Mathebuch gearbeitet, muss das Kind in der
Regel nachsitzen und in der Nachsitzstunde die nicht gemachten
Aufgaben erledigen. Warum? Weil schließlich alle Kinder Hausaufgaben
machen müssen, und zwar die, die die Lehrkraft aufgibt, keine selbst
ausgesuchten. Denn wo kämen wir denn da hin, wenn in der Schule
jeder zeigen würde, was er besonders gut kann? Ob das Nachsitzen so
motivationsfördernd ist, fragt niemand. Was macht das mit einem
Kind, wenn es begeistert lernt, voller Enthusiasmus das Klassenziel
lange vor Schuljahresende erreicht, und dafür mit Freizeitentzug und
zusätzlichen Aufgaben (die nicht interessieren, sondern so einfach
sind, dass sie zu Tode langweilen) bestraft wird? Es geht um
Menschenkinder, wohlgemerkt, um Menschen, die die gleichen Rechte auf
körperliche und geistige Unversehrtheit haben wie Erwachsene, die in
die Fürsorge (!) der Lehrkräfte übergeben sind.
Was ist mit Erwachsenen in
vergleichbaren Situationen? Würden wir es verantworten, einen
hochkompetenten Chirurgen sechs Stunden täglich (ausgehend im
Vergleich zu einem durchschnittlichen Schultag von Grundschülern
inklusive Hausaufgaben) Gemüse schnippeln zu lassen, weil andere
Leute das ja schließlich auch so machen? Würden wir die
Steuerfachkraft im Lager Sprudelkisten zählen lassen, weil sie gut
mit Zahlen kann und das andere eben auch machen? Der Arbeitsmarkt
sieht da andere Dinge vor – jeder muss zuerst nach seinen
Befähigungen eingesetzt werden. Dass das nicht immer möglich ist,
steht auf einem anderen Blatt. Das ist auch
richtig so, denn bei chronischer Unterforderung droht den erwachsenen
Fachkräften geistige Verarmung, Depressionen bis hin zu
Suizidgefahr, inklusive Klinikaufenthalt, getragen von den
Krankenkassen. Was chronische Unterforderung mit Grundschülern macht, dazu an anderer Stelle mehr - es wird ein langer Bericht.
Warum fördern wir unsere Kinder nicht
besser, wenn die Indikation da ist?
Warum gibt es keine kassengeförderten
Lernmodelle für begabte Kinder?
Nicht einmal die heilpädagogische Betreuung, die bei unterforderten Kindern zur Prävention ernsthafter seelischer Erkrankungen nötig ist, wird von den Kassen getragen. Warum nicht? Ist eine Behandlung eingehandelter (vermeidbarer) psychischer Erkrankungen kostengünstiger?
Nicht einmal die heilpädagogische Betreuung, die bei unterforderten Kindern zur Prävention ernsthafter seelischer Erkrankungen nötig ist, wird von den Kassen getragen. Warum nicht? Ist eine Behandlung eingehandelter (vermeidbarer) psychischer Erkrankungen kostengünstiger?
Würden wir Erwachsene mit einer
Zahnbürste die Straße kehren, wenn die Kehrmaschine im Keller steht
– nur weil der Nachbar das macht, der keine Kehrmaschine hat? Das menschliche Gehirn ist ein zu Höchstleistungen fähiges Organ - das offenbar häufig genug gezwungen werden muss, im Leerlauf zu arbeiten. Warum?
Heißt schulische Bildung nicht, dass Kinder befähigt werden sollten, ihr Gehirn für das zu nutzen, wofür es da ist, also zum Denken?
Heißt schulische Bildung nicht, dass Kinder befähigt werden sollten, ihr Gehirn für das zu nutzen, wofür es da ist, also zum Denken?
Ist Bildung Sache des Elternhauses? Sollen Eltern am Nachmittag und an den Wochenenden all das auffangen, Kinder mit ins Museum nehmen, in Kurse stecken, in die Bibliothek schicken? Wann sollen Kinder dann noch spielen? Oder dürfen begabte, wissbegierige Kinder nicht spielen, wenn sie ihre Lernmotivation erhalten wollen? Geht der Bildungsauftrag der Schulen (also die Daseinsberechtigung der Schulen, die Kindern Bildung vermitteln sollen) bei begabten Kindern an die Eltern über? Wenn ja: Bekommen Eltern dann das Lehrergehalt überwiesen, wenn sie einen pädagogischen Schnellkurs absolvieren, und die Kinder dürfen vormittags die Schule schwänzen? Wenn nein: Warum kommt die Schule dem Bildungsauftrag dann nicht nach?
Ganz klar, die Fragen provozieren. Das sollen sie auch, denn mit einem Schulterzucken und der Einstellung, dass man ein bestehendes System nicht zugunsten Einzelner ändern kann, ist es nicht getan. Nach den demokratischen Grundsätzen dieses Landes steht jedem Kind (also nicht nur dem Durchschnitt, nicht nur den lernschwachen Kindern) eine seinen Begabungen entsprechende Bildung zu, die es in seiner persönlichen Entwicklung fördert und fordert und zu einem seelisch und geistig erwachsenen Menschen heranreifen lässt. Dieser Anspruch wird derzeit nicht erfüllt. Pfui!
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