Das mediale Echo, das die Schwedin Greta Thunberg in den letzten Wochen erfahren hat, ist auch an Shizuka nicht vorbeigegangen. Engagiert und besorgt, wie sie ist, hat sie sich einen der von Campact verteilten Aufkleber mit dem Aufruf zum freitäglichen Klimastreik auf das Fahrrad geklebt und fährt damit seit einer Woche herum.
Gestern kam sie von der Schule nach Hause und erzählte, dass der Leiter des privaten Gymnasium per multimedialer Anzeige eine Mitteilung des Schulamts weitergegeben habe, in dem den Schülern und Schülerinnen der hessischen Schulen die Teilnahme an den freitäglichen Streiks verboten wird und die Schulen angehalten werden, die Lehrkräfte von "Schulausflügen" zum Zweck des Streiks abzuhalten. Ein Fehlen im Unterricht während stattfindender Streikveranstaltungen sei kategorisch als unentschuldigtes Fehlen zu werten. Der Herr Schulleiter bedauere das sehr, denn er fände die Sache eigentlich unterstützenswert, könne das aber aus genannten Gründen dann doch nicht befürworten.
Für Shizuka warf das mehrere Fragen auf.
- Warum wird die Mitteilung auf diesem Weg überhaupt publik gemacht? Eine informelle Mitteilung über die Klassenlehrkräfte würde weniger Aufmerksamkeit erzeugen und uninformierte Schülerinnen und Schüler gar nicht erst "heiß" machen.
- Ist eine Privatschule tatsächlich so strikt an die Vorgaben des Schulamts gebunden, dass die wortgenaue Weitergabe in diesem Rahmen nötig war?
- Warum wird um die Sache so ein Aufstand gemacht, wenn außer ein paar unentschuldigten Fehlstunden offenbar nichts passiert?
Für Shizuka war das unverständlich. Es kam die Frage auf, ob der Herr Schulleiter hier nicht etwa zwischen den Zeilen ein bisschen Rückgrat und politisches Engagement von der Schulgemeinschaft fordere, das aber nicht explizit und offen formulieren wollte. Immerhin ist er als Schulleiter nicht in der Situation, sich politisch engagieren zu dürfen. Was den Lehrkräften ja auch eigentlich untersagt ist. Moment, Privatschule? Eine Privatschule, die in der Vergangenheit durch die Schülerschaft und Mithilfe der Lehrerschaft Lichterketten für Asylbewerber organisiert hat, die gegen Studiengebühren auf die Straße gegangen ist und mit einem Rückschritt zu G9 insbesondere in Sachen Meinungsbildung, selbständiges Denken und Persönlichkeitsbildung stark macht? Die Sache scheint in der einen wie anderen Richtung bedenkenswert.
Gerade sitze ich in einem zentral gelegenen Café und sehe, dass sich die Schülerschaft der Stadt unter Leitung der Jugendorganisation der Grünen sammelt und die Innenstadt blockiert. Ein erster Blick verrät, dass sich nicht nur Schüler und Schülerinnen in der Versammlung befinden, sondern auch offenbar betreuende Erwachsene. Es sind mehr Menschen, als die ansässigen privaten Schulen stellen könnten. Und die lokale Presse ist auch eben eingetroffen ...
Editiert am Samstag, 16. März 2019: Shizuka informierte mich, dass die Mitteilung der Medienbildschirme in der Schule auf eine Mitteilung des Schulamts, nicht (wie ursprünglich angegeben) des Kultusministeriums hin stattfand.
Und die örtliche Presse war sich heute in der Morgenausgabe nicht einig, ob 400 oder 500 Schüler und Schülerinnen an den Kundgebungen teilgenommen hatten – für die Größe der Stadt aber unserer Meinung nach in jedem Fall eine stolze Leistung.
Shizuka war sich indes nicht ganz sicher, wie sie die Proteste bewerten sollte. Sie stimmt mit dem Anliegen überein, versteht aber auch den Druck nicht, der von allen Seiten auf die Schüler und Schülerinnen ausgeübt wird. Einerseits werden sie ermutigt, sich politisch zu engagieren. Wenn das dann, wie jetzt, passiert, wird gebeten, das doch bitte nur in einem konformen und bequemen Rahmen zu tun. Greta Thunberg wolle Aufmerksamkeit für den Klimawandel, wird gesagt, und die habe sie jetzt bekommen, also könne man die Sache ja beenden. Shizuka ist sich nach genauerer Recherche sicher, dass es nicht nur um Aufmerksamkeit geht: Die junge Schwedin weiß, wie alle Schüler und Schülerinnen, dass sich Politiker wie Wirtschaftsgrößen und alle anderen Erwachsenen der Klimaproblematik durchaus bewusst sind. Sie wollen keine Aufmerksamkeit – sie wollen, das endlich gehandelt wird. Denn mit Aufmerksamkeit wird man den Klimawandel nicht aufhalten können. Es müssen Taten folgen, und zwar sofort. Die Schüler und Schülerinnen benutzen die Schulpflicht also, um Druck auszuüben und die Erwachsenen zu erpressen: "Wir gehen zur Schule und tun, was Ihr als unsere Pflicht anseht, wenn IHR EUCH UM EURE PFLICHTEN KÜMMERT UND DIE WELTPOLITIK UND DEN KLIMASCHUTZ ENDLICH TATKRÄFTIG ANGEHT!"
Es geht also um Macht, um Autorität, und da steckt ganz viel Psychologie mit drin. Sowohl Shizuka aus auch ihrer Mama und ihren Großeltern ist aufgefallen, dass die Aktionen von Greta Thunberg zwar heftig kritisiert werden. Dass es aber nie um Kritik an dem geht, was die junge Frau sagt. Inhaltliche Kritik wird kaum geübt. Kritisiert wird:
- Dass sie einfach die Schule schwänzt.
- Dass sich ein kleines Mädchen mit Zöpfen erdreistet, zu internationalen Medien und wichtigen Politikern zu sprechen, und das auch noch zu einem Thema, von dem kleine Mädchen keine Ahnung zu haben haben.
- Dass die Eltern der jungen Schwedin, die ja nun doch schon aus dem Grundschulalter heraus ist, der Jugendlichen nicht nur keinen Einhalt gebieten, sondern sie sogar unterstützen.
- Dass Greta Thunberg mit einer Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert ist.
Alle diese Kritikpunkte haben mit dem, was die junge Frau sagt, nichts zu tun. Das "wer" und "wie" ist wieder einmal wichtiger als das "was". Shizuka sagte dazu: Getroffener Hund bellt. Die junge Frau wird nicht kritisiert für das, was sie sagt. Sie wird auf einer persönlichen Ebene angegriffen, weil sie mit dem, was sie tut, bestehende Machtverhältnisse in Frage stellt und damit auch noch Recht hat. Und das ist der eigentliche Skandal.